Textatelier
BLOG vom: 26.12.2021

Die Mistel ist ein vielseitiger Halbschmarotzer

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim

 


Mistelbusch Hohe Flumgebiet
 

Dieser Tage kann man an laubfreien Bäumen seltsame kugelförmige Büsche sehen. Es sind keine Vogelnester oder Hexenbesen, sondern es ist die Weißbeerige Mistel (Viscum album), die eine willkommene Dekoration zu Weihnachten und Neujahr ist. Sie verziert bei uns in Schopfheim Wohnungen, Hauseingänge, Wohnungstüren und Häuser. Die Mistel hat auch in Volksbräuchen und in der Heilkunde einen festen Platz.

Ein Halbschmarotzer
Die Mistel wird deshalb als Halbschmarotzer bezeichnet, weil sie nicht ganz auf Kosten des „Wirts“ lebt. Sie baut ihre Assimilationsprodukte mittels des Blattgrüns (Chlorophyll) selbst auf, während Wasser und gelöste Mineralstoffe der „Wirt“ liefert. Die Verbreitung erfolgt durch die Misteldrossel und Mönchsgrasmücke oder gelegentlich durch den Wintergast Seidenschwanz, die die klebrigen Mistelbeeren auf dem Speiseplan haben.  Das Fruchtfleisch bewirkt ein Festkleben des Samens am Schnabel des Vogels, der ihn dann an den Zeigen abwetzt. Samen, die geschluckt werden, verlassen den Verdauungstrakt unverdaut. Der fädig ziehende Kot bleibt an den Ästen der umliegenden Bäume hängen. Aus dem Samen bilden sich Saugwurzeln (Haustorien), die in die Leitungsbahnen der Wirtsbäume eindringen.

Küsse unterm Mistelzweig
Früher hatte die Mistel in Volksbräuchen einen festen Platz. Sie sollte Glück und Segen bringen und das Vieh gesund erhalten. Mistelzweige wurden über Türen aufgehängt. Personen, die sich darunter aufhielten oder durch die Türschwelle in die Wohnung gingen, konnten geküsst werden. Früher beklagte sich so manche Frau: „Ich wurde nicht geküsst!“ In Corona-Zeiten hört man dies: „Küss mich ja nicht!“ Viele Schopfheimer kennen den Brauch, er wird jedoch bei uns kaum noch praktiziert. Laut der Französin Anne Glinicke, die schon lange in Schopfheim lebt, wurde dieser Brauch in Frankreich etwas abgeändert. Alle Verwandte und Freunde, die an Neujahr zu Besuch kommen werden unter einem Mistelstrauch geküsst. Dabei wird der Spruch „Au gui, I´an neuf“ („Mit der Mistel kommt das Neujahr“) gesagt.

Emil Baschnonga informierte mich über englische Bräuche (Blog vom 25.12.2005: „Weihnachtsbräuche II: Das Küssen unterm Mistelzweig“):

„Der Adventskranz ist in England an der Wohnungstüre angebracht. Schon seit Tagen regnet es Nadeln von den überreich drapierten Weihnachtsbäumen. In einer Familie, die etwas auf sich hält, fehlt auch der Mistelzweig nicht, der oben am Türrahmen befestigt ist. Jeder Dreikäsehoch weiss, dass es Tanten und andere weibliche Familienmitglieder zu meiden gilt. Denn wer will schon nasse Küsse empfangen? Mitunter misslingen solche Ausweichmanöver, besonders, wenn man gross, also erwachsen geworden ist. Man kommt dann nicht mehr so leicht zwischen den Beinen durch. Der Mann erwischt, so will es die Unnatur, die falschen Damen vorgerückten Alters.“

 


Mistelbüsche an einem Obstbaum
 

In der Pfalz ist man der Ansicht, die Mistel bringe demjenigen Glück und Zufriedenheit, der die Mistel anfasst. In der englischen Grafschaft Staffordshire kam früher keiner auf die Idee, den Weihnachtspudding zu geniessen, wenn die darunter brennende Flamme nicht von einem Mistelzweig genährt wurde.

Wer nicht an den Glückbringer zum Jahreswechsel glaubt, der wird sich an die schöne Dekoration mit dem Halbschmarotzer erfreuen. Oft sieht man Mistelbusche, die mit Kugeln und roten Bändern versehen sind. In Schopfheim-Eichen prangt sogar ein Speichenrad mit Misteln an einer Hausfront. Ute Wassmer, wohnhaft in der Wallstraße 18, hat sich was Interessantes einfallen lassen. Auf der neben ihrem 1859 erbauten Haus hat sie ein Scheunentor mit Misteln geschmückt. Aber damit noch nicht genug. Auch über ein dekoriertes Fenster daneben prangt ein schöner Mistelbusch.

Steht nicht unter Naturschutz
Laut Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) steht die Mistel nicht unter Naturschutz. Klaus Böttger, Vorsitzender vom BUND in Schopfheim, weist darauf hin, dass für private Zwecke Mistel in kleinen Mengen vorsichtig abgeschnitten werden dürfen (Baumbesitzer fragen!). Man muss jedoch darauf achten, dass der Baum nicht beschädigt wird.  Wer jedoch die Mistel gewerbsmäßig veräußert, muss eine Genehmigung beim Landratsamt einholen. Mistelzweige kann man auch in Gärtnereien und auf Wochenmärkten kaufen.

Mistel als Heilpflanze
Die Mistel ist eine alte Heilpflanze und wurde von vielen Heilkundigen vergangener Zeit empfohlen. Sebastian Kneipp beispielsweise verordnete den Misteltee zur Stillung von Blutflüssen und bei Störungen im Blutumlauf. Heute dienen Arzneizubereitungen (Tee, Tropfen, oft kombiniert mit Weißdorn und Immergrün) mit ihren herz- und blutdruckwirksamen Wirkstoffen zur Behandlung von Bluthochdruck, Schwindel, Blutandrang zum Kopf, Ohrensausen und Konzentrationsstörungen. Die Injektionen von Mistelpräparaten dienen in der alternativen Medizin auch als begleitende Therapie bei Krebserkrankungen.

 

Blogs zum Thema:
25.12.2005: Blog von Heinz Scholz: „Weihnachtsbräuche II: Das Küssen unterm Mistelzweig“
https://www.textatelier.com/index.php?id=996&blognr=1490&autor=Heinz%20Scholz
12.05.2008: Blog von Walter Hess: „Die mysteriösen Misteln in den Baumkronen und ihr Krebsgift“
https://www.textatelier.com/index.php?id=996&blognr=2536&autor=Walter%20Hess

 

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